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Wörter – Sätze – Gedanken

Aufbruch

Da war ich nun. Ein Junge im Alter von fünf Jahren in einem Flugzeug über den Wolken irgendwo zwischen Istanbul und Wien auf dem Weg in eine andere Zukunft. Der Abschied fiel schwer, aber hier oben vergaß ich die Tränen vom Vormittag. Wohin die Reise ging, wußte ich nicht. Ich hatte einen Fensterplatz und mein Vater saß neben mir. Die Triebwerke des Flugzeugs surrten, der Pilot machte eine Durchsage und kurz darauf servierten schön gekleidete Damen Essen für die Reisenden.

Meine Mutter und meine zwei jüngeren Geschwister saßen in der Reihe hinter uns. Das Flugzeug war voller Menschen. Und überhaupt war alles wie in einem Traum. Die Flugzeuge sah ich immer nur von der Ferne. Während wir mit den Nachbarskindern vor der Tür spielten, flogen sie über unsere Köpfe hinweg. Einige der Kinder winkten immer und ich fragte mich, ob sie mir jetzt wohl auch zuwinken würden. Die Wolken hier oben sahen aus wie Hügel, manchmal türmten sie sich zu Bergen auf. Sie glichen Zuckerwatte und als der Pilot nach dem Start durch sie flog, hielt ich aus Angst und Neugier zugleich den Atem an und fühlte mich schwerelos. Meine Füße kribbelten. Hoch über der Erde, weg von der gewohnten Umgebung und fern von den Menschen, die mich liebten, drängten sich Fragen auf. Schließlich fragte ich meinen Vater, wohin er uns denn brächte. Er strich mir durch die Haare und antworte mit ruhiger Stimme:“Nach Hause, mein Sohn!“ Er lebte und arbeitete in einem Land, das Europa hieß. Einmal im Jahr kam er uns für zwei Wochen besuchen, dann war er wieder weg. Das Essen kam immer näher. „Aber wir haben doch schon ein Zuhause. Wieso müssen wir weg?“ Er versicherte mir, dass alles gut werden würde. Dann wollte er weitersprechen, als eine der schön gekleideten Damen uns das Essen überreichte. Ich war fasziniert davon, wie sie soviel Essen schön verpackt auf einem kleinen Brett platzieren konnten. Es sah aus wie Spielzeugessen. Ich stand auf, stellte mich auf den Sitz und rief meinen Geschwistern hinter mir zu:“Hier gibt es ganz kleines Essen!“ Meine Geschwister, drei und zwei Jahre, machten große Augen, während die Menschen um mich lachten. Wie süß, meinten sie. Mich überkam Scham und ich setzte mich wieder auf den Sitz.

Ich schaute wieder aus dem Fenster und sah dann eine größere Wolkenansammlung, die einem Schloß glich. Vor einem Jahr verließ uns mein Opa. Auf dem Friedhof sagte mir dann irgendwer, er wäre jetzt im Himmel über den Wolken, aber ich konnte es nicht glauben.

„Sind wir jetzt auch im Himmel, wie der Opa!“

„Was?“

„Opa ist doch im Himmel, aber ich kann ihn nicht sehen. Wo ist er?“

„Ach weißt du, dieser Ort ist noch weiter weg. Da müssen wir noch höher fliegen. Das kann dieses Flugzeug nicht.“

Das Essen schmeckte mir nicht und meinem Vater auch nicht. Er hatte Tränen in seinen Augen.

Entschlossen sagte ich: „Wenn ich groß bin, dann baue ich ein großes Flugzeug und fliege damit zum Opa. Dann bringe ich ihn zurück! Willst du mitkommen?“

Ankunft

Im Landeanflug bewunderte ich den Schnee, der das ganze Land bedeckte. Wohin ich auch sah, überall war es weiß. So viel Schnee hatte ich davor noch nie gesehen. Das Flugzeug landete kurze Zeit später etwas unsanft. Meine Ohren schmerzten noch vom Landeanflug, da hörte ich, wie die Passagiere plötzlich applaudierten. Wir Kinder erschraken. Der Pilot sprach über die Lautsprecher und es wurde wieder still.

Beim Verlassen der Ankunftshalle hieß die Kälte uns willkommen. Menschen stiegen in Busse, andere wurden von ihren Familien abgeholt. Wir stiegen in ein weißes Taxi und während der Fahrer die Koffer verstaute, machten wir es uns im Auto gemütlich. Wenige Augenblicke später fuhren wir auch schon los. Während der Fahrt sprach mein Vater mit dem Chauffeur. Wir Kinder bewunderten mit großen Augen die märchenhaft verschneite Landschaft und aßen dabei Kekse. Nach einer Weile kam das Taxi in einer kleinen Ortschaft zum Stehen. Auch hier lag überall massenweise Schnee. Wir stiegen aus und standen vor einem großen Haus mit einem riesigen roten Tor. Die Koffer wurden ausgeladen. Plötzlich wurde der Fahrer etwas lauter und deutete auf die Rückbank des Autos. Er war erbost über die Kekskrümmel, die überall auf dem Rücksitz verteilt waren. Mein Vater entschuldigte sich und gab ihm Geld für die Fahrt. Verärgert steckte er dieses ein und fuhr weg.

Wir gingen durch das rote Tor, marschierten über den Hof und kamen über Stiegen in eine im ersten Stock gelegene kleine Wohnung, die nicht beheizt war. Durch die Kälte und den Frost waren Flaschen zerbrochen und das ausgetretene Wasser auf dem Küchenboden gefroren. Wir stellten die Koffer im Wohnzimmer ab, um gleich daraufhin die Wohnung wieder zu verlassen. Nach einem kurzen Marsch im Schnee kamen wir bei Freunden meines Vaters an. Er ließ uns dort zurück und machte sich auf den Weg, um unsere eigene Wohnung vorzuheizen. Von den zahlreichen Kindern wurden wir bereits erwartet. Sie sprachen diesselbe Sprache wie wir. Lachende Gesichter empfingen uns, wir spielten zusammen und tranken heißen Tee.

Unsere erste Nacht verbrachten wir dann in unserem neuen Zuhause, weit weg von den vertrauten Menschen. Keine Spur von Oma, Opa, Onkeln, Tanten und meinen Cousinen. Obwohl unsere Familie nun endlich vereint war, fühlte ich mich doch einsam. Als alle schon schliefen, starrte ich die Decke an und dachte nach. In der Stille der Nacht hörte ich das Knistern des brennenden Holzes im Ofen und beobachtete das Flackern des Feuers, das durch ein kleines Loch im Ofendeckel empor stieg und an der Decke tanzte. Ich fühlte weder Freude noch Trauer. Es war alles zusammen und es war etwas Neues.

Avusturya – das ist unsere neue Heimat, hatte mein Vater kurz vor dem Schlafengehen gesagt. Es würde alles gut werden, meinte er. Mit vielen Fragen im Kopf kuschelte ich mich unter meine Decke und schloss meine Augen. Voller Neugier, was denn meine neue Heimat mir bereits am nächsten Tag bieten würde, schlief ich irgendwann ein.

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